Gestern wie heute: Erwartungen, Selbst- und Fremdbeeinflussungen bei Kranken

Galen von Pergamos (129 – 200 n. Chr.):

„Von den jetzt lebenden Menschen [ist] sozusagen kein einziger an der Wahrheit interessiert, sondern [jagt] in solchem Ausmaß dem Geld, politischen Machtpositionen und dem unersättlichen Genuß von Vergnügungen nach, dass man, falls es jemanden geben sollte, der auch irgendeine Wissenschaft betreibt, ihn für wahnsinnig hält. (…)

Wenn sie krank zu werden beginnen, [rufen sie] nicht nach den besten Ärzten, die sie ja auch niemals, solange sie gesund waren, als solche zu beurteilen sich bemühten, sondern nach denjenigen, die ihnen zugleich am vertrautesten sind und am besten zu schmeicheln verstehen, die auch etwas kaltes verabreichen, wenn sie darum gebeten werden, Bäder verordnen, wenn es ihnen befohlen wird […] und wie Sklaven jeden ihnen aufgetragenen Dienst leisten, im Gegensatz zu jenen alten Asklepiaden unter den Ärzten, die über die Kranken zu herrschen verlangten wie Feldherren über ihre Untergebenen.“ (aus: Über die therapeutische Methode, Buch I, Kap 1.)

Und wie ist es heute in unseren „modernen“ Zeiten? Die Kritik Galens wandte sich gegen diejenigen Ärzte,die sich bei ihren Verordnungen wider besseres Wissen nach den subjektiven Wünschen der Patienten richten. Auch heute haben Patienten subjektive Wünsche und wünschen sich nach ihrem mehr oder weniger richtigen Meinungen, auf eine bestimmte Art gesund zu werden, weil sie davon ausgehen, dass dies und nichts anderes notwendig sei, weil sie ja auf eine bestimmte Art krank geworden seien, die eben dies verlange. Das formulierte auch Dr. Erich Rauch, als er von den „Selbstbeeinflussungen der Patienten“ sprach, die es gelte zu korrigieren. Es gibt aber auch Selbstbeeinflussungen bei Therapeuten: Welcher Akupunkteur wird nein sagen, wenn ein Patient zu ihm kommt und akupunktiert werden möchte? Welcher Homöopath wird nein sagen, wenn er um eine Arznei gefragt wird? Und doch gibt es die Erfahrung, dass abhängig vom Krankheitsbild einem von drei Patienten nur mit Homöopathie nicht geholfen werden kann, ebenso wie die alten Chinesen nur bei einem von fünf Patienten Nadeln setzten und ansonsten mit Kräutern therapierten.

Damit ist nichts gegen Homöopathie oder Akupunktur gesagt, aber vieles gegen ein auf die Spitze getriebenes Spezialistentum, das sich nicht mehr der alten Wahrheit bewusst ist, dass, wer nur einen Hammer als Werkzeug hat, dazu neigt, jedes Problem für einen Nagel zu halten.

Wenn nun aber der Laie mit dem, was er für einen Nagel hält, zum Therapeuten kommt und dringend nach dem Therapiehammer fragt, sollte dieser sich den vermeintlichen Nagel erst mal genau anschauen, bevor er zum Hammer greift, in der Befürchtung, den Patienten an den Kollegen zu verlieren, der ohne genau hingeguckt zu haben mit großem Selbstbewusstsein zum Hammer greift,.

Werter Patient, Sie denken jetzt, das ist weit hergeholt? Leider habe ich in dreißig Jahren unzählige Patienten gesehen, die bis zum geht-nicht-mehr „mit dem Hammer“ traktiert worden sind, ohne dass etwas besser geworden wäre, und trotzdem danach bettelten, mehr davon zu bekommen, weil sie dachten, es wäre noch nicht genug gewesen.

Deswegen betone ich: Ohne Diagnose sollte keine Therapie erfolgen. Vor allem sollte keine invasive oder operative lokale Therapie ohne systemische Diagnose erfolgen! Nur die systemische Diagnose hilft, das Hauptproblem des Patienten darzustellen. Nur dann weiß man, an welcher Stelle der „Hammerschlag“ nötig ist, oder ob ein anderes Werkzeug nötig ist.

Wie geht der alte jiddische Witz? In einem galizischen Dorf bleibt ein Mann mit seinem Auto liegen. Mangels anderer Optionen bittet er den Dorfschmied um Hilfe. Der Dorfschmied öffnet die Motorhaube, haut mit dem Hammer auf den Motor, und siehe da: Läuft! Dafür verlangt er 20 Zloty. „20 Zloty!“, meint der Mann entsetzt, „so teuer?! Wie rechnen Sie das?“ Der Schmied stellt die Rechnung auf: gegeben a klop: 1 Zloty, gewußt wohin: 19 Zloty.

Memento: Wenn etwas getan wird, wird es nur helfen, wenn es an der richtigen Stelle ansetzt. Das war und ist die Kunst in der Medizin. Je gründlicher die Diagnostik, desto treffender die Therapie.