Lollis von der SPD

Harmloses Wahlkampf-Give-Away oder signifikantes Zeichen für die politische Kultur?

Eine Nachbetrachtung zur Europawahl 2004 mit gesundheitspolitischen Marginalien

Im Alphabet kommt nach dem Buchstaben L der Buchstabe K. Genauso sicher ist, dass Zucker- und Süßigkeitenkonsum das Risiko für die Zahnkariesentstehung hochtreibt: Nach Lolli kommt Karies.

Im Jahr 1928 verteilte die SPD im Reichstagswahlkampf Seifenstücke mit der Aufschrift „Wählt SPD“. Ein Dichter, der sich an die Rolle der SPD bei der Novemberrevolution 1918 erinnerte (SPD-Mitglied Noske war bereit, den „Bluthund“ zu geben, um die Revolution militärisch niederzuschlagen), schrieb ein Lied mit der Strophe: „Wir haben unsere Brüder mit Wahlkampfseife bedacht. Das tun wir das nächstemal wieder, es hat sich bezahlt gemacht. Wir schlagen Schaum, wir seifen ein, wir waschen unsre Hände wieder rein.“

LollisSPDUnd nun, 2004, ist es ist es wieder Zeit für ein bedeutungsschweres „Give-Away“: Die Bad Homburger SPD (vielleicht war es nur eine isolierte Aktion eines Gutmeinenden, der nicht wusste, dass das Gegenteil von „gut gemacht“ „gut gemeint“ ist) verteilte im Wahlkampf zur Europawahl am 13.6.2004 Lollis mit durchsichtig rot eingelassenem Schriftzug „SPD“.

Wie soll das beim Wähler ankommen?
Als Kombination aus netter Geste und Gedankenlosigkeit, so wie es früher häufig (mittlerweile seltener) Zahnärzte gab, die Kinder für ihren schweren Gang zu ihnen nach getaner Heldentat mit Bonbons belohnten?
Als farbensymbolische Anspielung: Zwar rote Grundfarbe, aber nicht mehr in der Wolle gefärbt sondern ausgeblichen wie das Engagement für die eigene Klientel?
Ein unbewusster Hinweis auf den Grad an gesundheitspolitischer Kompetenz?

Vielleicht hatte auch ein einsamer Parteistratege eingesehen, dass es an der Zeit war, den Wählern die Ergebnisse von sechs Jahren SPD-Politik, nämlich Sozialabbau und Kaufkraftschwund schmackhaft zu machen, den Frust zu kompensieren und den Gang zum Wahllokal zu versüßen.

Vielleicht ist es ein Hinweis auf künftige wohltätige Vorhaben der SPD, vielleicht gibt es künftig für alle und jeden Tag einen Lolli, damit wir möglichst schnell dahin kommen, dass Diabetes zur Volkskrankheit Nr. 1 wird und wegen der gestiegenen Nachfrage nach Insulin und den dazugehörigen medizinischen Begleitleistungen das Bruttosozialprodukt unaufhaltsam klettert und mit allen anderen Ausgaben zur Krankheitsbewältigung das ersehnte Wirtschaftswachstum in den zweistelligen Prozentbereich klettern lässt?

Vielleicht ist das nach Abarbeitung der „Agenda 2010“ die lohnende gesamtgesellschaftliche Perspektive zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit und Stärkung des Solidargedankens: Ein Volk von Diabetikern, das sich die Rolle von Patient und medizinischem Personal teilt und sich abwechselnd gegenseitig pflegt?

Aber Scherz beiseite: Sakurazwa, ein japanischer Heilkundiger, dessen Lebenswerk in der Rettung und Anwendung traditioneller japanischer Heilmethoden bestand, schrieb: „Raffinadezucker ist eindeutig der Mörder Nummer eins in der Geschichte der Menschheit – er wirkt weit tödlicher als Opium oder der radioaktive Fallout… Unwissende Menschen, die kleinen Kindern Süßigkeiten geben oder verkaufen, werden eines Tages mit Schrecken erkennen, was sie zu verantworten haben.“

Und das passt doch zum erwähnten Wahlkampfwerbungsartikel: Die SPD weiß nicht, was sie tut, egal ob es sich um die Agenda 2010 handelt oder die Verteilung von Lollis. Eines Tages aber wird sie mit Schrecken erkennen, was sie zu verantworten hat: Kaputte Zähne und Zuckerkrankheit beim Parteinachwuchs und die Zerstörung eines Gesellschafts- und Sozialsystems, das untrennbar mit ihrer eigenen Geschichte verbunden ist, somit auch den eigenen Untergang als Partei. Wahrscheinlich ein Beispiel dafür, dass die Politik von Zuckerbrot und Peitsche nicht unbedingt langfristig erfolgreich sein muss.

Aber ein Gesellschaftssystem, das den einzelnen Bürgern die Verantwortung für die Gesundheit zurückgibt (da gehört sie zwar hin) und gleichzeitig an den verschiedensten gesundheitsschädlichen Substanzen sowohl privat als auch staatlich massiv verdient (Benzin, Alkohol, Tabak, Zucker, Fast-Food, das man heute lieber „Convenience-Food“ nennt und das früher treffender als „Junk-Food“ tituliert wurde), ist unehrlich und als grobe Misswirtschaft zu bezeichnen, deren baldiges Ende ein nachdenklicher Mensch nur sehnlichst herbeiwünschen kann (Lieber ein Ende mit Schrecken als Schrecken ohne Ende).

Dass die Wahlstrategie für die SPD nicht aufging, wissen wir nun. Vielleicht werden nun ihre überflüssig gewordenen (gibt es das überhaupt?) Funktionsträger in Zukunft öfters Zeit haben zu der programmatischen Beschäftigung, die Kurt Tucholsky schon seinerzeit als SPD-typisch apostrophiert hat: „Hier können Familien Kaffee kochen!“ (Über die biologischen Effekte des Kaffeekonsums möchte ich mich hier an dieser Stelle jedoch nicht mehr auslassen.)