Dr. Bernd Hontschik: Die verlorene Kunst der Chirurgie

Explodierende Gesundheitskosten? Keineswegs. Doch die Orientierung an Bilanzen führt zur Zerstörung einer menschlich orientierten Medizin durch ökonomische Habgier.

Die eigentlichen ärztlichen Fähigkeiten, die wirklich ärztlichen Tätigkeiten in den Phasen der Indikation und der Restitution werden auf ein Mindestmaß reduziert und bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Wenn die Chirurgie
aber nur noch ein Handwerk ist, ist sie keine mehr. Einer meiner Lehrer hat einmal gesagt, dass er die Entfernung einer Gallenblase jedem beibringen könne, der nicht zwei linke Hände hat. Aber ob man sie entfernt und wann man sie entfernt und bei wem man sie entfernt und wie man sie entfernt, das ist die ärztliche Kunst.

Ich befürchte, wir sind in einen Prozess, in einen Strudel geraten, in dem die ärztliche Kunst völlig an die Wand gedrückt wird, und ich sage katastrophale Folgen für die Ausbildung junger Chirurginnen und Chirurgen voraus, wenn es uns nicht gelingt, diese Deformation anzuhalten und rückgängig zu machen.
Dieser Deformationsprozess hat aus meiner Sicht tiefere Ursachen, die außerhalb des Gesundheitswesens und außerhalb der Humanmedizin gesucht werden müssen und zu finden sind. Er ist Teil einer Umwälzung, von der
alle Sozialsysteme in unserer Gesellschaft betroffen sind.

In das Gesundheitswesen hat unsere Gesellschaft bislang einen Teil ihres Reichtums investiert, zum Wohle aller. Das Gesundheitswesen war ein wichtiger Teil des Sozialsystems. Nun wird das Gesundheitswesen zu einem
Wirtschaftszweig. Sofort gelten ganz andere Gesetze als in einem Sozialsystem. Die Gesundheitswirtschaft wird zur Quelle neuen Reichtums für Investoren.

Frankfurter Rundschau – Die verlore… 15.03.13 15:16  Wissen – 16 | 3 | 2013