Als „iatrogen“ werden Krankheitsbilder bezeichnet, die von Ärzten verursacht oder verschlimmert wurden, unabhängig davon, ob sie nach Stand der ärztlichen Kunst vermeidbar oder unvermeidbar waren, das Substantiv dazu ist Iatrogenesis. Die Suchmaschine fördert einen einzigen (!) deutschen Link zutage, wenn man danach sucht – in Deutschland gibt es anscheinend keine Diskussion darüber, dass Ärzte mitunter das Gegenteil von dem erreichen, was sie eigentlich wollen oder sollen. Vor allem deswegen gibt es eine weit verbreitete Scheu, sich ins Krankenhaus zu begeben. Die Gefahr, sich dort mit einem Krankenhauskeim anzustecken, ist hier längst nicht in dem Maße gebannt wie z. B. in den Niederlanden.
Die Operations- und Transplantationsmedizin der letzten Jahrzehnte hat dazu geführt, dass durch derartige medizinische Wunder der Glaube, ja eine abstrakte Gewißheit gewachsen ist, die Wissenschaft könne in fast jeder Krankheitslage Erlösung bringen.
Covid-19 hat diese Gewissheit zutiefst in hohem Maße erschüttert. Eine beispiellose Angst hat sich binnen kurzem breit gemacht und wird am Leben gehalten. Aus der Untersuchung von Voodoo-Praktiken wissen wir: Jede Angst kann töten, aber eine angstbelastete Diagnose kann den Tod durch die Diagnose nahezu garantieren. Die Opfer magischer Praktiken auf Haiti leiden an ominösen, anhaltenden Ängsten, die eine heftige Reaktion des sympathiko-adrenalen Systems und ein plötzliches Absinken des Blutdrucks verursachen, das zum Tode führt.
Die ständig wie ein Mantra wiederholte Vorstellung, nur ein Impfstoff könne Rettung bringen, bestätigt das, was Ivan Illich formulierte:
„Die traditionelle Weiße Magie der Medizin, die den Patienten in seinem eigenen Bemühen um Heilung unterstützte, ist zur Schwarzen Magie geworden.“ (…)
Medizinische Maßnahmen wirken als Schwarze Magie, wenn sie, statt die Kräfte der Selbstheilung zu mobilisieren den Kranken in einen ohnmächtigen und behexten Voyeur seiner eigenen Behandlung verwandeln. Medizinische Verfahren werden zu einer Krankenreligion, wenn sie als Rituale zelebriert werden, die alle Hoffnung des Kranken auf die Wissenschaft und deren Funktionäre lenken, statt ihn zu ermutigen, nach einer Sinndeutung seines Leidens zu suchen oder sich an einem bewundernswerten Menschen, der zu leiden gelernt hat – mag er vor Zeiten gelebt haben oder nebenan wohnen -, ein Beispiel zu nehmen. Die medizinischen Maßnahmen verschlimmern die Krankheit durch moralische Erniedrigung, wenn sie den Kranken in einem spezialisierten Milieu isolieren, statt der Gesellschaft jene Motivation und jenes Wissen zu vermitteln, die mehr soziale Toleranz für die Leidenden ermöglichen würden.“
„Die soziale Iatrogenesis läßt sich weitgehend als negatives Placebo – als Nocebo-Effekt (lat.: ich werde schaden) – erklären. Die nichttechnischen Nebenwirkungen biomedizinischer Interventionen fügen der Gesundheit ungeheuren Schaden zu. Wie stark die Schwarze Magie einer medizinischen Intervention wirkt, ist nicht von ihrer technischen Effizienz abhängig. Die Wirkung des Nocebo ist, wie die des Placebo, weitgehend unabhängig von dem, was der Arzt tut.“
Wir stehen vor einem gigantischen Scherbenhaufen überholter Gewissheiten. Aber das, was Ivan Illich formulierte, hat Bestand:
„Heute erhebt der Medizinbetrieb erneut den Anspruch, Wunder zu wirken. Die Medizin fordert ihr Recht auf den Patienten, selbst wenn die Ätiologie seiner Krankheit ungewiß, die Prognose ungünstig und die Therapie noch im experimentellen Stadium ist. Unter diesen Umständen kann der Versuch, “medizinische Wunder” zu wirken, eine Rückversicherung gegen das Scheitern sein, denn Wunder sind, definitionsgemaß, nur zu erhoffen und nicht zu erwarten. Das radikale Monopol über die Gesundheitspflege, das der moderne Arzt beansprucht. zwingt ihn mittlerweile, sich wieder priesterliche und königliche Funktionen anzumaßen, die seine Vorfahren aufgaben, als sie sich als Heiltechniker spezialisierten.“
Herr Drosten, Herr Wieler , erkennen Sie sich in diesem Spiegel ?
Alle Zitate nach: Ivan Illich: Die Nemesis der Medizin, C.H. Beck, München 2007 5. Auflage, S. 82 f